Auf 800 Höhenmeter verschlug es Dr. Andreas Palzer: Im schönen Allgäu, genauer in Scheidegg, praktiziert der Privatdozent der Münchner Ludwig Maximilians-Universität. Fest glaubt der Hoftierarzt an eine für alle Seiten gewinnbringende Verzahnung von Forschung und Praxisalltag. Der tiermedizinische Nachwuchs jedenfalls trifft bei ihm auf eine offene Tür. Auch „Zum Hofe“ ist hindurchgegangen.
Gute 100 Kilometer fährt Andreas Palzer bis zum Hof von Armin Hügle. Auf der anderen Seite des Bodensees liegt er, nahe der Schweizer Grenze: ein Familienbetrieb, 180 Sauen, dazu eine eigene Mast. Typische Kennzeichen des Palzerschen Kundenkreises. Auffällig dagegen ist der hohe persönliche Aufwand, den der Landwirt bei der Tierhaltung treibt. „Das beginnt schon beim Stall: Der ist 20 Jahre alt, aber bereits so gebaut, wie man heute nach Tierwohl-Kriterien planen würde“, erklärt der Fachtierarzt für Schweine. Auch das Füttern von Heu, das große Platzangebot in der Wartehaltung und die intensive Betreuung der ferkelnden Sauen – von der Teppichunterlage bis zum Trockenreiben der Neugeborenen – zeichnen Hügle aus, der seine landwirtschaftliche Ausbildung seinerzeit in der nahen Schweiz absolvierte.

Dass der Betrieb bei der „Initiative Tierwohl“ dabei ist und der „Überzeugungstäter“ nun auch eine zusätzliche Vergütung erfährt, freut seinen Veterinär. Der besucht den Hof in Gottmadingen routinemäßig jede Woche, so wie alle Ferkelerzeuger, die er betreut. „Über 50 Prozent meiner Arbeitszeit entfallen auf die Beratung“, schätzt Palzer, darauf angesprochen. Allein daran zeige sich, wie sehr sich der Beruf gewandelt habe: Wurde der Hoftierarzt einst gerufen, um Krankheiten zu heilen, dann gehe es heute viel mehr um deren Vorbeugung und damit um eine solide Bestandsgesundheit.
So weit alles schön und gut, der Wandel vom Mediziner zum Berater ist schließlich in aller Munde. Aber läuft der Tierarzt, der sich selbst als solcher definiert, nicht Gefahr, einer unter vielen zu werden?Schließlich fahren Berater unterschied-lichster Provenienz über die Dörfer. Entsteht womöglich ein neuer Wettbewerb, in dem die so spezifischen Aspekte des heilenden und ethisch verantwortlichen Berufs leiden könnten? „Ha! Das ist eine gute Frage!“, ruft Palzer und legt sogleich die Stirn in Falten. Nach kurzer Denkpause eine Gegenfrage: „Wer, wenn nicht wir Hoftierärzte, sind entscheidend? Niemand kennt den Betrieb so gut wie wir, niemand ist so häufig vor Ort, niemand kann mehr Vertrauen zum Landwirt aufbauen.“ Nein, einen Statusverlust befürchtet der „beratende“ Hoftierarzt nicht. Nicht in seinem rund 100 Kilometer großen Einzugsgebiet, wo er in jedem Betrieb ausschließlich mit einem Ansprechpartner – und zwar dem Chef – zu tun habe. Hier komme dem Mediziner auch zukünftig eine kostbare Schlüsselrolle zu. Diese mit Leben zu füllen, sei allerdings gewiss abhängig vom Tierarzt selbst und seiner Persönlichkeit, räumt der Schweinepraktiker ein.
Eine Vergütung nach Stunden, die er für seine Beratungsleistung berechnen könnte, verlangt Palzer bei seinen Bestandskunden übrigens nicht. Sie ist in der Jahrespauschale für die allgemeine Bestandsbetreuung integriert. „Ich fürchte eben, dass die Arbeit schlechter wird, sobald ich anfange, Stunden zu zählen. In jedem Landwirt tickt eine innere Stechuhr. Auf die Beratungsqualität kann sich das nur negativ auswirken“, glaubt Palzer, der vor sieben Jahren – als dritter Inhaber –in die Tierarztpraxis Scheidegg einstieg. Die Gemeinschaftspraxis ist ganz auf Schweine spezialisiert, wobei ein Kleintierbereich angeschlossen ist. Insgesamt zählt das Team 15 Köpfe. Darunter neun Tierärzte, zu denen derzeit drei Doktoranden gehören. Auch Palzers Ehefrau ist vom Fach und arbeitet im Kollegenkreis.
Doch zurück zum Thema Prophylaxe, das mit der Beratung bereits zur Sprache kam: Die meisten Höfe, deren Bestandsbetreuung die Tierarztpraxis Scheidegg innehat, liefern in das QS-System und nehmen damit am QS-Antibiotikamonitoring teil. Die Datenübertragung von der QS- zur HIT-Datenbank läuft automatisch. Die Antibiotikare-duktion ist für Palzer selbstverständliches Tagesgeschäft und seiner Meinung nach auch in den Betrieben längst angekommen. In der praktischen Bestandsbetreuung setzt er gerne auf Ergänzungsfuttermittel, die den allgemeinen Gesundheitszustand stabilisieren:„Probiotika, Präbiotika, Säuren – damit kann man viel machen. Nicht alles, aber viel“, bilanziert er. Da die meisten seiner Landwirte ihr Futter selbst mischen, lassen sich die Mittel leicht einbringen. Das gilt auch für Armin Hügle. Er betreibt zudem ein eigenes, detailliertes Futtermonitoring. Anders ausgedrückt: „Er schreibt sich einfach alles auf. Das schafft eine Datenlage, mit der sich bestens arbeiten lässt“, findet sein Hoftierarzt. Und? Zahlt sich der ganze Aufwand aus, den Hügle letztlich zusätzlich betreibt? Palzer wiegt den Kopf: „Kaufmännisch kann ich das nicht beurteilen. Aber wenn es um die Tiergesundheit geht, dann auf jeden Fall.“ Die QS-Antibiotikadatenbank bestätigt dies: Hügles Mastschweine und Aufzuchtferkel haben, Quartal für Quartal, einen Therapieindex von null.
Seit 2015 sitzt Palzer im Präsidium des Bundesverbands Praktizierender Tierärzte, bpt. Seither beschäftigt ihn die Antibiotikareduktion umso mehr. So sind es auch die Themenbereiche „Arzneimittel“ und „EU“, die in sein Ressort fallen. Zudem leitet er eine neu geschaffene Arbeitsgruppe, die sich mit der AMG-Novellierung befasst. Als wäre all dies nicht genug, engagiert sich der Privatdozent Palzer, der Anfang 2016 habilitierte, an der Tierärztlichen Fakultät der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, LMU. „Erst gestern besuchten uns Studierende, drei Stunden haben wir zusammen auf einem Betrieb verbracht“, erzählt der Hoftierarzt, der fest an eine für alle Seiten gewinnbringende Verzahnung von Forschung und Praxisalltag glaubt. Auch wenn deren Umsetzung im alles bestimmenden Tagesgeschäft, so räumt der Familienvater ein, alles andere als leicht sei.
Bevor Palzer, der selbst in München studierte, in die Scheidegger Praxis einstieg, verbrachte er acht Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU. „Die Forschung so ganz aufzugeben konnte ich mir nie vorstellen“, sagt er rückblickend. Warum, was hält ihn bei der Stange? Nach ein paar Minuten des Überlegens weiß er es: Es ist die Sorge um den fachlichen Stillstand. Sie ist es, die den Fachtierarzt für Schweine und „Diplomate of the European College“ dranbleiben lässt.
Eine konkrete Vorstellung davon, was „dranbleiben“ für Palzer bedeutet, bekommt der, der ihn zum Ethik-Kodex befragt. 2015 vom Deutschen Tierärztetag beschlossen, 2016 mit Umsetzungsempfehlungen unterfüttert, soll der Ethik-Kodex Veterinäre selbstverpflichtend beim „ethisch richtigen Handeln“ unterstützen. „Schön und gut“, meint Palzer, „aber wenn es praktisch wird, dann höre ich nur: ‚Das muss der Tierarzt im Einzelfall selbst entscheiden.‘ Das war vorher auch schon so, dafür brauche ich keinen Kodex!“ Der Hoftierarzt kommt in Fahrt und führt eine Reihe von Praxisbeispielen an. Ihnen allen ist eins gemein: Steht der Hoftierarzt vor einer Gruppe ernsthaft erkrankter Tiere, dann bedeutet die Heilung derer, die durchkommen, immer auch das verlängerte Leid derer, denen nicht mehr zu helfen ist. „Mit einem frühzeitigen Bolzenschuss wäre Letzteren – im Sinne des Tierwohls – besser gedient. Oder sollen wir lieber der Natur ihren Lauf lassen? Wo, in diesem großen Graubereich, liegen die verbindlichen Grenzen?“, fragt der Veterinär und ringt mit den Händen.
„Wo, in diesem großen Graubereich, liegen die verbindlichen Grenzen?“
Was sich Palzer wünscht, sind konkrete ethische Anhaltspunkte, die sich nach prozentualen Heilungschancen, einer definierten Menge von Krankentagen und Ähnlichem mehr richten. Sie sollen seinem Berufsstand praktische Orientierung bieten. Und dabei geht es ihm noch nicht einmal um seine persönliche Entscheidungsfindung im Fall des Falles. Hier fühlt sich Palzersicher, er folgt einem inneren Seismographen, auch mit nachgelagerten Zweifeln hat er nicht zu kämpfen. Nein, worum es ihm im Kern geht, ist eine fundierte, faktisch gesicherte Argumentation gegenüber der Öffentlichkeit, den Medien und einem kritisch nachfragenden Amtsveterinär.„Wir Nutztierärzte müssen das Thema für uns ausloten und brauchen dazu die interne Diskussion. Denn wir haben da offensichtlich ein Problem“, fordert er auf und stoppt damit auch nicht vor den kontrollierenden Behörden: „Amtsveterinäre besitzen innerhalb der Gesellschaft die größte Glaubwürdigkeit. Sie müssen wir in Fragen ethischer Nutztierhaltung stärker integrieren!“ Für all das will Palzer innerhalb seiner bpt-Arbeit werben, sich selbst einsetzen.
„Amtsveterinäre besitzen innerhalb der Gesellschaft die größte Glaubwürdigkeit. Sie müssen wir in Fragen ethischer Nutztierhaltung stärker integrieren!“
Reichlich Durchsetzungskraft ist dem 39-Jährigen zuzutrauen, der bisherige Blick in seine Vita genügt. Und dabei fing Palzers Werdegang so beschaulich an: Aufgewachsen ist er auf dem rheinland-pfälzischen Lande, hier hielten seine Eltern Milchkühe, im Nebenerwerb. Zudem bot der Hof Platz für allerlei Kleintiere – Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen –, die der Filius nicht nur aufzog, sondern auch selbst schlachtete. Dass er Tierarzt werden wollte, das wusste Palzer schon damals, dass es aber speziell die Schweine werden sollten, darauf brachte ihn erst Frankreich: Hier besuchte er ab seinem 16. Lebensjahr regelmäßig einen schweinehaltenden Familienbetrieb, bei dem er die Sommerferien über aushalf. Das gefiel dem „Eifeler Jung“ so gut, dass er dem Hof bis heute freundschaftlich die Treue hält – und sich medizinisch ganz dem Borstenvieh verschrieb.
Ob es nun Frankreich oder doch die Tiere der Kindheit waren, die schließlich seinen Wunsch nach einem eigenen Hof nährten – man weiß es nicht. Fest steht nur, dass Palzer im letzten Jahr Nägel mit Köpfen machte und ein altes Gehöft nahe Scheidegg erwarb. Viel Platz für allerlei Mitbewohner. Die ersten eigenen Hühner sind schon ausgebrütet. Jetzt träumt er eine Kategorie größer: Black-Angus sollen eines Tages auf seinen Weiden grasen. Und während er von den stattlichen Rindern erzählt, bekommt sein Blick etwas Schwärmerisches. Keine Frage: Palzers Black-Angus sind im Anmarsch.
Quelle: “Zum Hofe” (1/2017) – Hier ansehen und herunterladen